Gutes, wirksames Handeln als Eltern, Freunde, Arbeitskollegen und Führungskräfte ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Zu den drei wesentlichen gehören erstens die gegebenen Umstände, zweitens die Kompetenzen der Person im jeweiligen Bereich und drittens ihre Persönlichkeit. Manchmal sind auf allen drei Ebenen beste Voraussetzungen gegeben. Das ist der glückliche Idealfall, der uns in unseren Tätigkeiten und Beziehungen aufblühen lässt. Doch das ist, ehrlich gesagt, selten. Manchmal sind die Umstände alles andere als optimal. Solange aber die anderen beiden Faktoren (Kompetenz und Persönlichkeit) positiv sind, ist dennoch Großartiges möglich. Manchmal steht zu Beginn sogar nur das eine klar erkennbar im Raum: die Persönlichkeit.
Ein gutes Beispiel dafür ist Abraham Lincoln (1809-1865). Seine Präsidentschaft in den USA dauerte ganze vier Jahre und wurde durch seine Ermordung beendet. Dennoch gehört sie zu den prägendsten in der Geschichte der USA. Lincoln beendete den in seiner Amtszeit entbrannten Bürgerkrieg und führte die Wiedervereinigung der Süd- und Nordstaaten herbei. Er setzte die Abschaffung der Sklaverei durch und schuf die Grundlage dafür, dass die USA im 20. Jahrhundert zur wichtigsten Industriemacht der Welt werden konnte. Die Voraussetzung zu diesen geschichtlich weitreichenden Errungenschaften waren alles andere als ideal. Lincoln stammte aus einer armen Familie und besaß nur eine dürftige Schulbildung. Viel mehr als die einfachen Grundlagen von Lesen, Schreiben und Rechnen wurde ihm in seiner Schulzeit (die vermutlich höchstens vier bis fünf Jahre gedauert hatte) nicht mitgegeben. Den Rest hat er sich selbst beigebracht, vor allem durch Lesen.
Was machte Lincoln zum vielleicht beliebtesten Präsident der USA? Seine Persönlichkeit. Seine Gabe, in einem erbitterten Bürgerkrieg unablässig für Versöhnung und Einheit zu werben. Seine Fähigkeit, zwischen einem Ende des Krieges und dem Ende der Sklaverei in den Südstaaten differenziert abzuwägen und agil zu denken und zu handeln. Sein Mut, sich in der Regierungsarbeit mit Menschen zu umgeben, die einmal seine Gegner gewesen waren und vieles anders beurteilten als er selbst. Seine Lernbereitschaft im Blick auf ihm fehlende Kompetenzen, im Bürgerkrieg etwa in militärischen Fragen. Seine Sorgfalt im Vorbereiten seiner Reden, die voller kluger Argumente und Überzeugungskraft waren – alles andere als schnell dahingesagte Oberflächlichkeiten mit kurzer Gültigkeitsdauer. Sein Glaube. Seine Integrität. Es war die Persönlichkeit dieses Mannes, es waren nicht die Umstände, die ihn umgaben, und auch keine von Anfang an vorhandene Kompetenz.[i]
Ein zweites Beispiel beeindruckt mich in diesem Zusammenhang. Es ist das von Alice, einer entfernten Verwandten. Ihr Mann Peter führte eine erfolgreiche Schreinerei, die er selber aufgebaut hatte, mit einem Dutzend Mitarbeitern. Gemeinsam hatten sie zwei kleine Kinder. Mitte dreißig kam Peter bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Nach diesem tragischen Ereignis stand Alice vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens: Sollte sie die Schreinerei auflösen und die Angestellten entlassen, oder den Betrieb weiterführen, auch wenn sie weder von der Geschäftsführung noch vom Schreinern viel verstand? Sie entschied sich fürs Weitermachen, auch wegen Marcel, ihrem Ältesten, der schon als Kind Interesse am Betrieb des Vaters zeigte.
Alice führte die Firma also weiter. Die Voraussetzungen waren alles andere als ideal. Alice, vom Schicksal schwer getroffen, alleine mit einem Unternehmen und zwei kleinen Kindern. Dann ihre begrenzten Kenntnisse, was die Führung einer Schreinerei betraf. Doch sie wagte es, getragen und motiviert auch von ihrem christlichen Glauben. Das Geschäft blieb erfolgreich und expandierte sogar in den Folgejahren. Weshalb? Unter anderem deshalb, weil Alice eine starke Frau war. Eine Persönlichkeit. Sie bat ihre Angestellten um Mithilfe. Ohne deren Knowhow ging es nicht. Sie übertrug ihrem Vorarbeiter ein ungewohnt hohes Maß an Entscheidungskompetenz, um die fachliche Qualität des Betriebs zu sichern. Sie bildete sich im betriebswirtschaftlichen Bereich weiter. Obwohl gegenüber ihren Angestellten viel Loslassen und Vertrauen gefordert war, weil diese das Handwerk verstanden, behielt sie die Kernaufgaben der Führung fest in den Händen. Es funktionierte. Als zehn Jahre später ihr Sohn, der das Geschäft übernehmen sollte, schwer erkrankte und ein Jahr später starb, wurde Alices Welt noch einmal brutal erschüttert. Und wieder entschied sie sich, das Geschäft weiterzuführen. Es blieb bis zu ihrer Pensionierung ein vitaler Betrieb, der in der Region für Qualitätsarbeit bekannt war.
Alice ist für mich ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass am Ende die Persönlichkeit eines Menschen mehr zählt als ideale Umstände. Mehr sogar als die eigene Kompetenz.
Umgekehrt sieht es anders aus: Wenn eine Person ideale Umstände vorfindet und in fachlicher Hinsicht top vorbereitet und kompetent ist, es aber an einer gewissen Persönlichkeitsreife vermissen lässt, ist die Krise sehr viel wahrscheinlicher.
Ich denke an einen Schulleiter, der neu zu einer gut aufgestellten Schule kam. Die Lehrteams arbeiteten optimal zusammen, viele waren schon seit Jahrzehnten dort. Er selbst konnte ausgezeichnete Zeugnisse vorweisen. Auffallend war nur, dass er nie länger als zwei Jahre an einer Stelle gearbeitete hatte. Aber davon abgesehen sah alles bestens aus. Ein Jahr später herrschte Krisenstimmung. Der neue Schulleiter säte durch sein Verhalten Misstrauen unter den Lehrpersonen. Er fühlte sich rasch angegriffen, schrieb beleidigte und beleidigende Emails. Traf willkürliche Entscheidungen. Nach vergeblichen Interventionsversuchen traten vier von sechs Personen aus der örtlichen Schulbehörde zurück. Schließlich verloren einige Lehrkräfte die Geduld und kündigten ebenfalls. Erst als Eltern aktiv wurden, entließ der Kreisschulrat den Schulleiter und es kehrte langsam Ruhe ein.
Beste Umstände, ausreichende Fachkompetenz, aber eine unreife, zur Dysfunktionalität neigende Persönlichkeit – weshalb kann das nicht funktionieren? Weil es ohne Persönlichkeit kein reifes Handeln gibt. Ich will nicht sagen, dass so jemand nichts zustande bringt und es wie in diesem Beispiel früh eskalieren muss. Aber es wird neben durchaus guten Ergebnissen ein insgesamt hohes Maß an problematischen Nebengeräuschen geben. Sobald sie das Gute übertönen, ist am Ende mehr verloren, als gewonnen.
[i] Ein faszinierender Blick auf Lincoln bietet diese Biographie: Ronald D. Gerste (2008), Abraham Lincoln: Begründer des modernen Amerika. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet.